Die Kinder von Bullerbü verlieren ihren Vater
SCHWEDEN

Die Kinder von Bullerbü verlieren ihren Vater

Jahrzehntelang galt das schwedische Modell als Vorzeigeobjekt eines umsorgenden Sozialstaates. Diese Zeiten sind nun vorbei, rechte Parteien im Aufwind. Dabei steht das Land ausgerechnet jetzt vor großen Aufgaben - auch in Europa

Schweden ist für viele Deutsche ein Sehnsuchtsort. Ein Land mit unberührter Natur, Elchen und falunroten Holzhäusern. In Skandinavien spricht man - meist ungläubig - vom „Bullerbü-Syndrom“. Einer verklärten, häufig auch naiven Liebe der Deutschen zum Königreich im Norden. Denn mit der Wirklichkeit hat diese romantische Vorstellung oft wenig zu tun.Schuld an dieser Sehnsucht ist die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. Zwar weltweit gefeiert, war sie insbesondere in Deutschland beliebt. „Wir Kinder aus Bullerbü“, Ende der 1940er Jahre erstmals erschienen, beschreibt dabei das idyllische Landleben in der Provinz Småland-und wurde für die Deutschen zur Blaupause der heilen, schwedischen Welt.Mit Pippi Langstrumpf, ihrer wohl bekanntesten Figur, entwarf Lindgren hingegen eine deutlich passendere Vorlage der nationalen Identität. Ein selbstbewusstes Mädchen mit Sommersprossen, einem Koffer voller Geld, eigenem Pferd und Affen, das allein in ihrer Villa Kunterbunt lebt und sich im Laufe der Geschichte mit den Nachbarskindern Tommy und Annika anfreundet. Zu Recht ist man in Schweden auf Pippi stolz. Zu Unrecht wird das Mädchen mit roten Zöpfen vor allem in Deutschland oft verkürzt als eigenwilliges Kind interpretiert.

Von Maxi Beigang

Das schwedische Ideal der Selbstverwirklichung

Denn sie steht sinnbildlich für das schwedische Ideal der Selbstverwirklichung, den Traum von individualisierter Freiheit. Der schwedische Wohlfahrtsstaat wird außerhalb Skandinaviens oft als Ausdruck extremer, manchmal gar überbordender staatlicher Fürsorge verdreht. Und doch baut der schwedische Gesellschaftsvertrag nicht auf das Kollektiv, sondern setzt auf das Individuum. Nicht das solidarische Miteinander steht im Mittelpunkt, stattdessen die Befreiung des Einzelnen von den Zwängen der Gemeinschaft. Das gelingt aber nur mit einem starken, das Individuum unterstützenden Staat.

„Ist der Schwede ein Mensch?“, fragen die Historiker Henrik Berggren und Lars Trägårdh vielleicht auch ob dieses vermeintlich paradoxen Gemeinschaftssinns in ihrem gleichnamigen Buch. Sie beschreiben die nationale Identität als „Staatsindividualismus“, den schwedischen Wohlfahrtsstaat als eine Allianzzwischen Staat- und einzelnen Bürgerinnen und Bürgern. Voraussetzung für diesen Gesellschaftsvertrag ist „eine breite Auffassung davon, wie wichtig es ist, von anderen Menschen unabhängig, nicht untergeordnet“ zu sein. Dabei sei es unwichtig, ob es um Wirtschaft, Gefühlsleben oderverwandtschaftliche Verhältnisse gehe.

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Pippi Langstrumpf steht sinnbildlich für den Traum von individualisierter Freiheit. Foto: Verlagsgruppe Oetinger 

Das zeigt sich auch in den Gesetzgebungen des berühmten Wohlfahrtsstaates. Der wird unter sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen zwar gern als Erfolgsmodell der in Schweden über Jahrzehnte so übermächtigen Sozialdemokratie verkauft. Doch baut er eigentlich auf historische Werte der Bevölkerung. Ab den 1930er Jahren haben die Sozialdemokraten unter dem Ministerpräsidenten Per Albin Hansson clever institutionalisiert, was schon 100 Jahre zuvor Teil einer aufkeimenden nationalen Identität war: Den Drang nach Selbstständigkeit. Die individuelle Verwirklichung ist wichtiger als die traditionellen Verpflichtungen der Gemeinschaft.

Carl Jonas Love Almqvist beschrieb diesen Drang bereits 1839 in seinem Roman „Die Woche mit Sara“. Darin erzählt er die Liebesgeschichte zwischen der Alleinreisenden Sara und Albert, die sich auf einem Dampferschiff kennenlernen. Beide verlieben sich, Sara macht aber schnell deutlich, dass sie vom sozial einengenden Ehekorsett des frühen 19. Jahrhunderts wenig hält, die Beziehung nur eine Zukunft habe, wenn sie unverheiratet zusammenleben würden. Albert lässt sich darauf ein. Auch, weil er eine mündige „Bürgerin“ deutlich „liebenswerter“ findet als eine unmündige Gattin.

Almqvist war mit seinem Roman der schwedischen Gesetzgebung weit voraus. Über ein Jahrhundert später begann der Wohlfahrtsstaat kollektive Lösungen anzubieten, um seine Bürgerinnen und Bürger aus den familiären Abhängigkeiten zu befreien. Das ist der Unterschied zum deutschen Sozialstaat. Das kleinste Puzzleteil der schwedischen Gesellschaft ist der einzelne Mensch, in Deutschland dagegen die Familie. Politische Lösungen für gesellschaftliche Probleme bauen genau darauf auf.

Unter anderem auch deshalb wurde in Schweden bereits vor über 50 Jahren das Ehegattensplitting abgeschafft. Die Ehe als institutionalisierte Form der Liebe, so die schwedische Vorstellung, kann nur frei eingegangenen werden, wenn sie unabhängig bleibt. Steuererleichterungen wie beim deutschen Ehegattensplitting liefen dagegen immer Gefahr, den Einzelnen durch wirtschaftliche Abhängigkeiten an eine größere Gemeinschaft zu binden. Genau das will man aber in Schweden nicht. Stattdessen soll das Individuum unterstützt werden, nicht das (Ehe-)Kollektiv. Im Ausland wird das mitunter als unsolidarische Individualisierung wahrgenommen. Doch in Schweden ist die Angst, dass persönliche Bindungen das eigene Ich erdrücken könnten größer als die Angst vor staatlicher, eher unpersönlicher Einflussnahme.

Große Distanz zu skandinavischen Nachbarländern

Schweden knüpft das individualisierte Sozialsystem ja trotzdem auch an übergeordnete Werte wie Solidarität und Sicherheit. Die Sozialgesetzgebung ist antihierarchisch, orientiert sich weder an Familie noch Geschlecht noch Verwandtschaftsgrad. Wenn in Deutschland bei Studium und Ausbildung die Eltern meist für die Kinder finanziell einspringen müssen, umsorgt in Schweden der Staat die Heranwachsenden mit Stipendien und günstigen Krediten. Der Staat bleibt dort solidarisch, wo es Menschen mitunter nicht immer sein können.

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Der Sozialdemokrat Per Albin Hansson (1885-1946). Foto: Alamy Stock Photos / Archive PL

Das ist schwedische Freiheit. Eine Figur wie Pippi steht mit ihrer Unabhängigkeit dafür wie keine andere. Ihren Vater könnte man als Sinnbild der staatlichen Solidarität sehen. Er bleibt abwesend, unterstützt Pippi mit seinem Koffer voller Geld und der Villa Kunterbunt aber bei der Selbstverwirklichung. Wie lange hätte es ohne diese solidarische Unterstützung des Staates wohl gedauert, ehe Pippi die Nachbarsfanlilie um Hilfe hätte bitten müssen? Wie lange wäre Pippi dann noch sie selbst geblieben?

Was Schweden, auch im Vergleich mit den skandinavischen Nachbarländern, kulturell extrem macht, ist dieser Drang nach Unabhängigkeit. Laut der „World Values“-5tudie von 2022, die international die Einstellungen zu unterschiedlichen Werten untersucht, legen Schwedinnen und Schweden einen höheren Wert auf Selbstverwirklichung und weniger auf kleine Familiengemeinschaften als irgendein anderes Land der Welt.

Durch das schwedische Ideal der Freiheit lässt sich auch der schwedische Sonderweg der vergangenen Pandemiejahre erklären. Das Land verzichtete größtenteils auf drastische Einschränkungen, gab den Schwedinnen und Schweden Empfehlungen statt Verordnungen. Auch gab es keine vorsorgliche Quarantäne für Kontaktpersonen. In Deutschland wollte man damit die weitere Covid-19-Verbreitung verhindern, in Schweden gab es lediglich den Ratschlag, dass sich Kontaktpersonen im Umgang mit Anderen vorsichtiger verhalten sollten. Eine Corona-Infektion war demnach eine individuelle Angelegenheit. Gesundheitspolitisch wäre es womöglich, zumindest zeitweise, besser gewesen, sich von diesem kulturellen Ideal der Freiheit zu lösen. In Schweden gab es deutlich mehr Todesfalle als in den skandinavischen Nachbarländern. Doch die pandemiebedingte Übersterblichkeit in den ersten beiden Corona- Jahren war laut Zahlen der Weltgesundheitsbehörde in Schweden niedriger als in Deutschland. Trotz fehlender Lockdowns.

Die Vision vom umsorgenden Sozialstaat bröckelt seit Jahren

In Schweden schützt der Staat also das Individuum rechtlich und sozial, im Gegenzug gibt er den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Autonomie und Unabhängigkeit von der Familie. Die Schwedinnen und Schweden bezahlen das wiederum mit etwas weniger Rechten und einer höheren steuerlichen Belastung.

Was aber passiert, wenn der starke Staat, auf dem das nationale Gesellschaftsmodell baut, nicht mehr richtig funktioniert, hat sich im größten skandinavischen Land in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt. Denn wenn „Vater Staat“ nicht mehr kann - oder will - gibt es für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger keine anderen Schutz- oder Sicherheitsmechanismen, auf die sie zurückfallen können.

Durch die Finanzkrisen zu Beginn der 90er Jahre musste der umsorgende Staat, auch beim eigenen Personal, sparen. Mit Apotheken, auch kleineren Krankenhäusern, ganzen Industriezweigen wurde Schweden erstmals großflächig privatisiert. Die Fürsorgepflicht des Staates wurde kleiner, Unternehmen mächtiger, die Menschen mussten mehr Eigenverantwortung übernehmen. Antworten, mit dieser neuen Realität eines schwächeren Staates umzugehen, hat das Land bis heute nicht gefunden.

Doch eine Gesellschaft, in der Gesetzestreue so tief verankert ist, ist auf einen starken Staat und seine soziale Kontrolle angewiesen. Der zieht sich aber seit Jahrzehnten mehr und mehr zurück, die Schwedinnen und Schweden verabschieden sich dagegen zu langsam von ihrem idealstaatlichen Modell des Individualismus.

Das Land hat sich dadurch massiv gewandelt, ist laut dem Global Wealth Report ungleicher als die USA. Der Reichtum konzentriert sich an der Spitze, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, Privathaushalte sind deutlich höher verschuldet als in den meisten anderen europäischen Ländern.

Aufrieb gibt das rechten Kräften. Seit über zehn Jahren sind die rechten Schwedendemokraten im Stockholmer Parlament vertreten. Eine Partei, die noch in den 90ern „Schweden den Schweden“ skandierte, ist seit der Wahl im vergangenen Herbst zweitstärkste Kraft. Etwa jeder fünfte Einwohner sucht mittlerweile ganz rechts nach Antworten. Sogar die Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahren immer wieder Themen der Rechten übernommen. Auch, weil sie auf viele Probleme der Gesellschaft mit einem zurückgeschraubten Staat keine eigenen Antworten mehr finden.

Innenpolitische Schwerpunkte auch auf europäischer Ebene

Dabei steht Schweden gerade jetzt vor riesigen Aufgaben. Der Staat bietet seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Lösungen für das große Problem der Segregation im Land, die Integration wurde seit den 90er Jahren größtenteils der Straße überlassen. Die Schusswaffengewalt nimmt auch deswegen entgegen europäischen Trends seit Jahren zu. Im vergangenen Jahr ist in Schweden jede Woche mindestens ein Mensch durch Schüsse gestorben. Trauriger Rekord im Land.

Damit konnten die Konservativen und die Rechten punkten. Den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen Jugendbanden und eine vermeintlich unbegrenzte Migration ins Land haben sie auch deshalb für die kommenden vier Jahre auf die politische Tagesordnung gesetzt. Segregation, so der Konsens mittlerweile selbst bei vielen schwedischen Genossinnen und Genossen, habe nichts mehr mit sozioökonomischen Kriterien wie Armut oder Bildung zu tun, sondern müsse auch über ethnische Zugehörigkeiten definiert werden.

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Ulf Kristersson ist seit 2022 Schwedens Regierungschef. Foto: Nicolas Economou/IMAGO 

Für ihre EU-Ratspräsidentschaft hat Stockholms Regierung auch deshalb Sicherheit auf die europäische Agenda gesetzt. Nicht nur auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine muss reagiert werden, sondern auch auf organisierte Kriminalität innerhalb der einzelnen Mitgliedsländer. Innenpolitisch will Schweden in den kommenden vier Jahren Strafen verschärfen und ausländische Straftäter, selbst ohne Gerichtsurteil, schneller abschieben. Eine Zusammenarbeit mit dem Mitte-Links-Block wird ausgeschlossen, dabei sind sich die regierenden Konservativen ausgerechnet hier mit den Sozialdemokraten größtenteils einig. Den Einfluss der rechten Schwedendemokraten dürfte das erhöhen.

Ob das für Regierungschef Ulf Kristersson eine gute Wahl ist, muss sich zeigen. Die schwedische Bevölkerung ist nach etwas mehr als drei Monaten zumindest mit seiner Arbeit kaum zufrieden. Laut aktuellen Umfragen ist das Vertrauen in die neue Regierung seit der Wahl um ganze elf Prozent gesunken. Auch, weil sie sich mit der EU-Ratspräsidentschaft und dem noch immer blockierten Nato-Beitritt vor allem im Ausland um Erfolge bemüht. Einige Wahlversprechen, wie ein Strompreisdeckel zum l. November, sind bereits gebrochen worden.

Bullerbü heißt im schwedischen Original übrigens „bullerby“ - und steht für Lärmdorf. Vielleicht müsste man in Deutschland für den Blick gen Norden also gar keinen neuen Namen finden. Dass zwischen Stockholm und Göteborg, Malmö und Kiruna kaum alles idyllisch ist, zeigt sich seit Jahren bei genauem Hinsehen nämlich ziemlich deutlich.

Erschienen im Tagesspiegel am 12.02.2023

„Ein grüneres, sichereres und freieres Europa ist die Grundlage unserer Prioritäten.“

Ulf Kristersson, schwedischer Ministerpräsident

Schweden und die Europäische Union

Am 1. Januar 1995 trat Schweden neben Österreich und Finnland der EU bei. Bei der Volksabstimmung 1994 sprachen sich 52,3 Prozent der Bevölkerung dafür aus.

• 21 Abgeordnete entsendet das Land ins Europäische Parlament heute.

• Von Januar bis Juni 2023 hat die schwedische Regierung zum dritten Mal seit dem EU-Beitritt den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne.

Er­schie­nen im Ta­ges­spie­gel am 27.02.2023