Um Ressourcen zu sparen, ist es sinnvoll, verbrauchtes Material zu recyclen, das leuchtet ein. Um das effizient und effektiv tun zu können, muss man den Müll am besten an der Quelle möglichst sauber trennen.Mit diesem recht plausiblen Verständnis wollte vor Kurzem die Stadtverwaltung von Barcelona in einem „Reallabor“, dem Viertel Sant Andreu, die Müllabfuhr versuchsweise von Großtonnen an der Straßenecke auf Tagesmüllsäcke umstellen. Altpapier, Verpackungen, Bio- und Restmüll: Jeden Tag sollte eine andere Müllsorte abgeholt werden. Die farbigen Beutel wurden mit Chips versehen, um den „pädagogischen Bedarf“ von Müllsündern personalisieren zu können. Der Hintergrund: Spanien erfüllt die von der EU geforderte Recycling-Quote noch nicht, weil der gemischte Müll nur zu knapp einem Viertel recycelt wird. Und Studien belegen, dass die Abfuhr von Einzelsäcken sogar hartnäckige Nicht-Mülltrenner zu einer nachhaltigeren Praxis bringt.Die Anwohner im Viertel reagierten trotz hoher Plausibilität ablehnend: Das System sei zu rigide, klagten sie, die Säcke unästhetisch, der Müll stinke nun zuhause und sei draußen ein Fest für die Ratten. Sie leisteten Widerstand, indem sie am Restmüll-Tag die gelben Verpackungssäcke vor die Tür stellten (die nicht abgeholt und mit Mahnhinweis versehen wurden) und den Biomüll tagelang vor sich hingammeln ließen – und hatten damit Erfolg. Die Bürgermeisterin Ada Colau stoppte das Pilot-Projekt und versprach mehr Bürgerdialog. Offenbar gab es zu viel „pädagogischen Bedarf“ und zu wenig geteilte Alltagsplausibilität beim Thema angewandte Nachhaltigkeit.Das ist nur ein kleines Beispiel für die Probleme mit dem großen Wandel, der uns bevorsteht. Ein anderes wäre der massive Protest in der Schweiz, als es im geplanten CO2-Gesetz um die Erhöhung des Spritpreises um sieben Rappen (6,3 Cent) ging – wohlgemerkt umlagefinanziert, die Bürger hätten etwas zurückbekommen. Auch in Deutschland wird diskutiert. Man denke an den Aufschrei des glücklosen Kanzlerkandidaten Laschet gegen den Öko-Aufschlag: 70 Euro mehr für einen Familien-Flug nach Mallorca würden den „Traum vom Sommerurlaub“ ruinieren. Oder die nun wieder gescheiterte Einführung eines Tempolimits. Oder die Diskussion um Windräder als „Verspargelung der Landschaft“.
Von Jörg Metelmann
„Wir brauchen eine Kultur
des gewollten Wandels, das
erfordert Einbildungskalkül“
Nein, keine Sorge, das wird jetzt kein Blut-und-Tränen-Beitrag, der Verzicht und Enthaltsamkeit predigt. Wenn die vergangenen 50 Jahre nach der Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts „Die Grenzen des Wachstums“ eines gezeigt haben, dann dieses: Moral allein hilft nicht, um den Konsumdrang zu bändigen, Wissen allein auch nicht. Woran fehlt es denn? Manche nennen es Umsetzungskompetenz, andere Mut, wieder andere Generationenehrlichkeit. Ich nenne es mit dem Maler Paul Klee „bessere Erkenntnis“: Es fehlt eine lebendige, gefühlte, begehbare Vorstellung davon, wie wir in Zukunft leben wollen. Diese bessere Erkenntnis ist ästhetisch und mit der Art und Weise vergleichbar, wie wir eine Zeichnung mit Blicken abtasten, Assoziationen bilden und emotional berührt werden, Urteile entwickeln und wieder verwerfen. Der Künstler Stefan Frankenberger macht das mit seinem Projekt Metropa erfahrbar. Der Plan einer europäischen U-Bahn mit Superschnellzügen schafft auf einen Schlag ein völlig neues Zusammengehörigkeitsgefühl auf dem Kontinent, konkretisiert ein alternatives Verständnis von Mobilität und kreiert zudem ein gigantisches, nachhaltiges Investitionsprojekt (der „Marshall-Plan“ von Ursula von der Leyen).
Die Frage lautet: Wo will ich in einer Skizze des Kommenden stehen, wie arbeiten, wie lieben, wie mich bewegen? Wo ist der gedankliche Raum für einen neuen Lebens-Energie-Mix jenseits der Vollbeschäftigung? Mit Teilzeiteinkommen und Basis-Bürgergeld und daher mehr Kraft für Großeltern- und Kinderbetreuung, Hobbies, ehrenamtliches und politisches Engagement? Wir haben keine positiven Bilder, wie ein veränderter Alltag mit mehr Gestaltungszeit und Selbsttätigkeit aussehen könnte– und wir haben (noch) keine geteilte Kultur des Gehens in diese Richtung.
Vorherrschend im politischen Diskurs sind Verzichtsszenarien: Leben und Arbeiten wie immer, nur ohne Schweineschnitzel und Milchprodukte, ohne Fliegen und Zweitauto, ohne Plastikmüll und exzessives Streaming. Diese Szenarien sorgen für die allseits bekannte Panik: „Die wollen mir ja was wegnehmen!“. Gegen diese Verlustangst lässt sich keine gestaltende Politik machen, das zeigt das Beispiel aus Barcelona. Der erbitterte Widerstand droht im schlimmsten Fall – nach der Flüchtlingskrise 2015 und der Corona-Pandemie – die Gesellschaft in Klimafragen ein weiteres Mal zu spalten.
Um das zu vermeiden, brauchen wir eine Kultur der gewollten Veränderung. Dafür braucht es wiederum mehr Räume für Einzelne und Gruppen, sich neu zu erfinden – und neue Bilder, innere wie äußere. Das erfordert Einbildungskraft, Fantasie, Assoziationen, Spinnereien, Experimente, Wünsche, Träume. Genau hier kommt der Begriff des „Imagineering“ ins Spiel, den Micky-Maus-Erfinder Walt Disney als Kreativitätstechnik berühmt gemacht hat. „Was immer ich träumen kann, das kann ich auch bauen“, lautete das Motto der Disney-Themenpark-Imagineure. Auf Deutsch könnten vergleichbare Wortneuschöpfungen „Vorstellschraube“ oder „Einbildungskalkül“ heißen, die die charakteristische Kombination von (künstlerischen) Fiktionen und (technischen) Fakten einzufangen versuchen.
Disney hat sich den Begriff markenrechtlich schützen lassen, obwohl er ihn gar nicht erfunden hat. Das war die US-Firma Alcoa, die mit Imagineering bereits 1942 zu einem klugen Umgang mit der kriegsknappen Ressource Aluminium aufrief. Mir und meinem Kollegen Harald Welzer schien der Begriff zu prägnant, um ihn der Freizeitindustrie zu überlassen – zielt er doch genau auf die gesamtgesellschaftlich dringend benötigten sozialen Innovationen anstelle des längst widerlegten „Technik-wird-es-schon-richten“-Mantras.
Klar, bei den Worten „Fiktionen“, „Wünsche“, „Träume“ kommen die Standard-Ökonomen mit ihrem Bierdeckel-Realismus aus dem Wachstumsfort geritten und skandieren: Jedes alternative Denken gefährdet das Wachstum, und was nicht wächst, vergeht! Das stimmt ja auch in Teilen, denn natürlich gehört Wachstum zu unserer aller Leben – aber im Gegensatz zur Modellannahme unbegrenzt-unendlichen Wachstums gehören im wirklichen Leben eben auch Verlust und Vergehen dazu: Etwas endet, erhält andere Maße, transformiert sich. Und ja, es gibt auch plausible ökonomische Gründe für moderates Wachstum, das über erweiterte Investitionen die finanziellen Grundlagen für eine unternehmerische Kultur schafft, in der Neues ausprobiert werden kann. Dieser Wachstumszwang ist systemrelevant für eine funktionale Marktwirtschaft, kann aber vom Wachstumsdrang der höchstmöglichen Renditen unterschieden werden, wie der St. Galler Umweltökonom und Wachstumstheoretiker Christoph Binswanger nicht müde wurde zu betonen. Es gibt eine Alternative – und es geht jetzt unter Zeitdruck darum, sich von der Macht bestimmter Realitätsvereinbarungen und von der eigenen gefühlten Ohnmacht nicht (weiter) klein, dumm und selbstunwirksam machen zu lassen.
Denn das ist der zentrale Ausgangspunkt jedes Imagineering-Prozesses, seine Startstufen-Schubumkehr: Die wirklichen Träumer und Utopisten sind die Wachstumsdrang-Apologeten! Eine Wirtschaftsweise, die pro Jahr fast drei Erden verbraucht (EU-Schnitt), ist ganz nüchtern betrachtet „nicht von dieser Welt“. Das ist auch die wörtliche Übersetzung des aus dem Griechischen stammenden Wortes „Utopie“ („ou topos“ heißt „Nicht-Ort“). Alle, die sich in Denken, Fühlen und innovativen Praktiken anschicken, die liberale Utopie zu erden, sich wieder anders auf dem Planeten zu beheimaten als über XXL-Konsum und quantitatives „Immer mehr!“, sind die wahren Realisten. Die Umstellung der Besteuerung von knapper werdender (Lohn-)Arbeit auf die Besteuerung von CO2-Verbrauch, die ein Bürgergeld finanziert, ist nicht utopisch, sondern realistisch – Studierende rechnen das mit planbaren Zahlen für Politik und Unternehmen in wenigen Tagen. Ein Europa der autarken Republiken, die unter dem suprastaatlichen EU-Schirm nachhaltige Energiesysteme, regionale Ernährung und lokale Produktion organisieren, ist nicht utopisch, sondern realistisch. Die Rückverpflichtung der Finanzmärkte auf die Kapitaldeckung der Realwirtschaft und die Besteuerung der „Wertschöpfung“ durch Algorithmus-getriebene Transaktionsströme sind nicht utopisch, sondern realistisch.
„Fit for 55“ ist kein
Lebensgefühl, sondern
eine errechnete Zahl
Es will niemand zurück auf die Bäume in eine Zeit ohne Penicillin, wenn man für eine enkeltaugliche, sozial gerechtere Version von Lebenschancen und Lebensqualität eintritt. Das industrielle Zeitalter hat seit 1800, als eine Milliarde Menschen von durchschnittlich einem Dollar am Tag auf der Erde lebte, einen vor gut 250 Jahren noch unvorstellbaren Wohlstand und Entfaltungsspielräume für nunmehr fast acht Milliarden Menschen geschaffen. Die Geschichte der zivilisatorischen Entwicklungen ist global beeindruckend, darauf hat der zu früh verstorbene schwedische Gesundheitsforscher Hans Rosling in „Factfulness“ immer wieder hingewiesen, auch wenn der Wohlstand durch Imperialismus, Kolonialismus und Ausbeutung noch immer ungleich verteilt ist und durch die „große Beschleunigung“ des Wachstums der vergangenen Jahrzehnte auch der Klimawandel beschleunigt wurde. Es ist ebenso wenig alles gut, wie alles schlecht ist, man darf sich nur nicht vom melodramatischen Gehirn leiten lassen, sondern muss mit positivem Trotz und herzlicher Schamlosigkeit die Schritte in eine Post-Karbon-Konsum-Gesellschaft gehen.
Imagineering als Begleitung sozialer Prozesse, als Poetologie der Transformation, hat insofern kein vorab definiertes Ziel. „Klimaneutralität-Fit for 55“ ist eine errechnete Zahl, kein Lebensgefühl. Wie sich Leben 2055 anfühlen wird, wird das Produkt der Verhaltensweisen sein, die wir von heute an entwickelt haben werden. Produzieren wir weiter nach dem Motto „neben uns die Sintflut“, wie der Soziologe Stephan Lessenich es beschreibt, durch Externalisierung der Wohlstandskosten, also Müll nach Asien, Kinderarbeit beim Shrimps-Waschen? Oder navigieren wir mit dem Kompass der Prinzipien eines guten, nachhaltigen Lebens: Höhere Achtsamkeit für das natürliche und soziale Klima, qualitativer Wohlstand, die Kooperations- und Inklusionsfähigkeit neuer Gemeinschaften, ein anderes als ein nationales „Wir“?
Auf diesen Wegen gibt es nicht das eine Leitbild, sondern viele Prozessbilder, die die Menschen innerlich antreiben: Kindheitserinnerungen, eigene Beobachtungen, Kunstwerke, Pressefotos und vieles mehr. Sie zusammen mit den Geschichten des gelungenen Wandels später mal in einer Berliner Ausstellung zu kuratieren, die in Anlehnung an John F. Kennedys große Rede „Wie die Mondmission auf der Erde landete“ heißen könnte, darauf freue ich mich genauso wie auf die Fahrt in die Hauptstadt mit der U-Bahn Metropa. Aber das ist schon wieder eine andere Utopie für Realisten.
Erschienen im Tagesspiegel am 17.11.2021
Zur Person
Den Wandel denken
Jörg Metelmann ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Seit 2015 lehrt er als Ständiger Dozent und Titularprofessor an der Universität St. Gallen (Schweiz) mit dem Fokus auf Transformationsforschung und neues Lernen/Neues lernen. Zuvor widmete er sich Themen wie Medienreligion, Public Value Management, Melodram und Moderne. 2020 gab er mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer den Sammelband „Imagineering. Wie Zukunft gemacht wird“ (Fischer Taschenbuch, 240 Seiten, 12 Euro) heraus, der die Möglichkeiten nachhaltiger Veränderung auslotet. Tsp
Erschienen im Tagesspiegel am 14.12.2021