Menschen mit Behinderung haben es nicht nur seit der Pandemie extrem schwer eine Anstellung zu finden. Sie schaffen selten den Sprung in den regulären Arbeitsmarkt. Der German Diversity Monitor bringt es auf den Punkt: „Trauriges Schlusslicht in diesem Jahr ist die Diversity-Dimension ,Behinderung'. Menschen mit Behinderungen stehen gemeinhin nicht im Fokus des Diversity-Engagements deutscher Unternehmen, sind aber aktuell besonders betroffen. Der Rückgang der Relevanz der Diversity-Dimension Disability kommt einem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit gleich.“ Dieses Ergebnis fußt auf der Analyse von 160 Konzerngeschäftsberichten und einer Befragung von 119 mittelständischen Unternehmen.Auch in den Medien spielen Menschen mit Behinderung keine Rolle. Das Institut Mediatenor hat über einen Zeitraum von vier Jahren über eine Million Beiträge aus Leitmedien ausgewertet, wovon sich gerade 334 auf Menschen mit Behinderung beziehen. Behinderung scheint unsichtbar und so ist es kein Wunder, dass 44 000 Arbeitgeber:innen keinem einzigen behinderten Menschen Arbeit geben und 160 000 Menschen mit Behinderung dauerhaft arbeitslos sind.All das steht im krassen Widerspruch zu der gesamtgesellschaftlichen Relevanz, die mit Behinderung einhergeht. In Deutschland sind 10 Prozent der Bevölkerung behindert (7,9 Millionen) und weltweit sind es gar 15 Prozent (über 1 Milliarde). Tendenz steigend aufgrund des demographischen Wandels und der Tatsache, dass Behinderungen zum größten Teil im Alter auftreten. Früher oder später ist jede:r direkt oder indirekt von Behinderung betroffen.Es gibt gute Gründe, warum Unternehmen in ihrer D&I Strategie verstärkt Menschen mit Behinderung berücksichtigen sollten. Für Lina-Maria Kotschedoff, hochgradig sehbehindert, Business-Coach und Gewinnerin des German Diversity Awards 2020 in der Kategorie Behinderung profitieren Unternehmen, Teams und Geschäftsmodelle davon, wenn sie Menschen mit Behinderung beschäftigen, da sie eine natürliche Kreativität für Problemlösungen haben. Haben müssen, da sie täglich erfahren, dass ihre Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das fordert und fördert Empathie, Lösungsorientierung und Innovation, genauso wie Widerstandsfähigkeit, Willenskraft und Flexibilität.
Von Andreas Heinecke
„Die Wirkung eines
Rollentauschs hält lange an“
Wie Platon schon wusste, ist die Not die Mutter der Erfindung. Vinton Cerf , Chief Evangelist Officer bei Google, gilt zusammen mit anderen als der „Vater des Internets“. Seine Mutter war gehörlos, er selbst schwerhörig. Er suchte nach einer Lösung, wie er ohne zu telefonieren mit seinen Kolleg:innen kommunizieren konnte. Kotschedoff, Cerf und andere belegen, dass Menschen mit Behinderung eine soziale Avantgarde darstellen. Sie brauchen heute die Produkte und Dienstleistungen, die morgen für alle von hoher Relevanz sind. Der Einbezug der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung schafft neue Märkte und hilft allen Menschen. Hierdurch entsteht ein enormes Marktpotenzial, das von der OECD mit acht Billionen jährlich beziffert wird.
Um dieses Potenzial zu heben, brauchen wir eine Inklusionswende, und für eine Inklusionswende brauchen wir „Allies“, Verbündete: Menschen, die bereit sind, die Bedürfnisse anderer zu erkennen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen. In der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ des Hamburger Sozialunternehmens „Dialogue Social Enterprise“ zum Beispiel laden blinde Guides zu einem Abenteuer in völliger Dunkelheit ein und helfen den Gästen, ihre nicht-visuelle Wahrnehmung zu entdecken. Beim „Dialog im Stillen“ lassen gehörlose Guides ihre Gäste die Kraft der nonverbalen Kommunikation spüren. Die Wirkung dieses Rollentausches hält weit über die Dauer des Dialog-Erlebnisses hinaus an – und verändert für immer die Sichtweisen auf das Thema Behinderung und Fähigkeiten.
Wir von „Dialogue Social Enterprise“ verfolgen diesen Ansatz mit unserem Programm „Innoklusio“ neuerdings auch im Rahmen eines vom Bundesarbeitsministerium geförderten Modellversuchs. Die Inhalte werden von Menschen mit verschiedenen Behinderungen vermittelt, da sie Expert:innen in eigener Sache sind. Eine Plattform zur Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung entsteht. Empathie wird erzeugt, negative Voreinstellungen korrigiert und Sicherheit im Umgang geschaffen.
Mit einer mobilen Diversity-Ausstellung auf dem Gelände der beteiligten Unternehmen, einem Führungskräftetraining und einer berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildung sollen Unternehmen von den Potenzialen von Menschen mit Behinderung überzeugt werden und als neue Allies erkennen, welches Innovations- und Marktpotenzial durch sie freigesetzt werden kann.
— Der Autor ist Gründer des Sozialunter- — Der Autor ist Gründer des Sozialunternehmens „Dialogue Social Enterprise“.
Erschienen im Tagesspiegel am 11.11.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 10.11.2021