TEXT Emanuel Wyler, Markus Landthaler
So trüb die Brühe in unserer Kanalisation ist, so reich ist sie an Informationen. Sie kann uns unter anderem dabei helfen, Infektionskrankheiten rechtzeitig einzudämmen oder Antibiotikaresistenzen zu erkennen. Wir sollten ihr Potenzial als Frühwarnsystem nutzen.
Es gibt unzählige Bakterien, Viren, Parasiten und Pilze - bekannte und unbekannte - die Menschen und Tiere krank machen können. Einige dieser Mikroben werden permanent überwacht. Wir beobachten ihre Menge, Ausbreitung und genetische Entwicklung. Beim Poliovirus zum Beispiel sind Abwasseruntersuchungen Routine. Die vergangenen drei Pandemiejahre haben die Forschung beflügelt und das enorme Potenzial solcher Ansätze gezeigt. Nun ist die Frage, welchen Nutzen wir als Gesellschaft langfristig daraus ziehen wollen. Möglich wäre zum Beispiel eine Art "Wetterbericht für Viren". Mikroben im Abwasser zu beobachten, heißt für uns: Wir detektieren genetische Informationen in Form von Nukleinsäuren, also DNA oder RNA, die Menschen oder Tiere ausgeschieden haben. Manchmal liegt sie in ganzen, infektiösen Partikeln vor wie bei Polio. Manchmal sind nur Fragmente übrig, wahrscheinlich an Feststoffe gebunden, wie bei SARS-CoV-2.
Wenn ein Mensch auf einen Krankheitserreger getestet wird, ist das eine saubere Angelegenheit. Der Tupfer für den Abstrich ist steril, danach wird die Probe im Labor mittels PCR analysiert. Ganz anders Abwasser: Ausscheidungen und Abfälle fließen durch verschmutzte Rohre, vermischen sich mit dem Abfluss von Straßen oder Betrieben, mit Schlick und Sand. Entsprechend schwer ist es, dem Gemisch sinnvolle Daten zu entlocken. Während der Pandemie sind hunderte wissenschaftliche Publikationen erschienen, die die Methoden verfeinern - auch von uns. Diese Grundlagenforschung macht die Abwassermessungen verlässlicher.
Sind die Nukleinsäuren aus dem Wasser extrahiert, sind zwei Aspekte interessant. Wie oft kommt eine bestimmte Mikrobe - oder eine Untergruppe - vor? Je mehr Menschen infiziert sind, desto mehr Nukleinsäuren dieses Virus findet die PCR in den Abwasserproben. Es ist quasi ein "PCR-Test für die ganze Stadt". Dutzende Länder nutzen Abwasser, um Corona zu überwachen, und publizieren die Daten frei zugänglich. In Deutschland haben wir dafür den Pandemieradar des Bundesministeriums für Gesundheit sowie Websites verschiedener Bundesländer und Städte.
Der zweite Aspekt ist Sequenz, die Abfolge der vier Bausteine in den Nukleinsäuren. Aus den Nukleinsäure-Fragmenten im Abwasser werden die 30 000 "Buchstaben" des Coronavirus-Erbgutes ausgelesen und zusammengesetzt. Damit kann man die Variante bestimmen, die es im Einzugsgebiet der Kläranlage gibt, und bei regelmäßigen Tests die Evolution des Virus im Laufe der Zeit beobachten. Machbar ist das, weil Hochdurchsatz-Sequenzierungen in den letzten Jahren deutlich günstiger und einfacher geworden sind.
Warum sollten wir Mikroben im Abwasser messen?
Im Abwasser können wir ein breites Spektrum klinisch relevanter Krankheitserreger nachweisen. Neben Atemwegsviren wie SARS-CoV-2, Influenza und dem Respiratorischen Syncytialvirus RSV gehören dazu Mpox (Affenpocken), Entero-, Noro- oder Rotaviren und Hefepilze - sowie Gene, die Bakterien zu Antibiotika-Resistenzen verhelfen.
Während der Pandemie konnten wir belegen, dass Abwassermonitoring das Ansteigen einer Infektionswelle mit etwa einer Woche Vorlauf zeigt. Es kann also als "Frühwarnsystem" fungieren. Bei Influenza könnte das Abwassermonitoring helfen, Impfkampagnen gezielt zu intensiveren. In Deutschland lässt sich nur knapp die Hälfte der über 60-Jährigen jährlich gegen Grippe impfen. Vielleicht würde die Motivation steigen, wenn sie an den Abwasserdaten sehen, dass eine Welle anrollt. Bei RSV könnten Abwasserdaten außerdem die besonders belasteten Kinderkliniken vorwarnen und die Planung der Behandlungskapazitäten erleichtern.
Proben aus Kläranlagen können ein repräsentatives Bild der in der Bevölkerung zirkulierenden Mikroben vermitteln. Abwasser kann aber auch örtlich fokussiert beprobt werden. Auf dem Gelände großer Unternehmen können die Virussignale aus dem Abwasser als Prognose für den Krankenstand dienen; sie können mit Homeoffice gegensteuern. Im Abwasser von Krankenhäusern oder Pflegeheimen könnte man nach Antibiotika-Resistenzgenen fahnden. In der Diagnostik lässt sich mithilfe des Abwassers eingrenzen, auf welche Mikroben eine Patientin oder ein Patient getestet werden soll - während die Symptome von Infektionskrankheiten oft wenig spezifisch sind.
Aus einem "Wetterbericht für Viren" könnten Institutionen im Gesundheitssektor, Unternehmen, Behörden und Privatpersonen gleichermaßen Schlüsse ziehen. Eine Arztpraxis würde vielleicht wieder eine Maskenpflicht einführen. In der Bevölkerung könnte ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit von präventivem Handeln entstehen. Dazu bedarf es aber einer guten Aufbereitung, um die Aussagekraft und Bedeutung der Zahlen zu erklären.
Jenseits von Abwasser
Abwasser ist bei Weitem nicht die einzige Quelle, um Krankheitserreger zu beobachten. Abstriche von Oberflächen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Nukleinsäuren aus eingefangenen Mücken oder Gewässerproben - umfassende Beobachtungen können uns helfen, die Mikroben um uns herum in ihrer Gesamtheit und ihre Entwicklung über die Zeit zu erfassen.
Die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt ist eng verwoben und mit der Klimaerwärmung kommen erhebliche Veränderungen auf uns zu. Die mit Hochdurchsatzsequenzierung gesammelten Daten aus Umweltproben können zum Verständnis ökologischer Zusammenhänge im Sinne des One-Health-Ansatzes beitragen. Für die Analyse dieser gigantischen Datensammlungen brauchen wir die Algorithmen der "künstlichen Intelligenz". Sie können im Rauschen der Daten relevante Muster erkennen. Und schlussendlich können alle diese Daten ungeahnte Schätze heben: Enzyme aus Bakterien, Phagen oder Pilzen oder ihre Produkte können in der Medizin oder für biotechnologische Anwendungen sehr wertvoll sein.
Natürlich sollten wir auch auf die nächste Pandemie gut vorbereitet sein. Der jeweilige Krankheitserreger wird wahrscheinlich im Abwasser zu finden sein - so wie schon im Sommer 2022 nach den ersten Mpox-Fällen. Kompetenz und Erfahrung helfen, beim nächsten Mal die Ausbreitung des Virus rechtzeitig einzudämmen. Nicht zuletzt dank eines funktionierenden Abwassermonitorings.
Prof. Markus Landthaler Arbeitsgruppe "RNA-Biologie und Posttranskriptionale Genregulation" am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max-Delbrück-Centers (MDC-BIMSB).
Dr. Emanuel Wyler Arbeitsgruppe "RNA-Biologie und Posttranskriptionale Genregulation" am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max-Delbrück-Centers (MDC-BIMSB).
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