Deutschland wurde lange vom Ausland für seinen Weg durch die Coronakrise bewundert. Deutlich mehr Testkapazitäten, weniger Tote und ein leistungsfähiges Gesundheitssystem mit stets freien Intensivbetten haben den Briten, Franzosen und Italienern Respekt eingeflößt.
Text Beatrice Hamberger
Ganz Europa steht nun vor einem Herbst und Winter mit vielen Unbekannten. Aber schon im ersten Halbjahr hätte einiges besser laufen können – auch in der größten Wirtschaftsmacht Europas.
Fatale Fehleinschätzungen am Anfang hinsichtlich Ausbreitung und Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, der monatelange Mangel an Schutzausrüstung und nicht zuletzt die bis heute andauernden Ausbrüche in Pflegeheimen offenbaren Schwächen im Krisenmanagement.
Man kann darüber streiten, ob die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu nachsichtig mit China war oder ob sie den Coronaausbruch weit vor dem 12. März zur Pandemie hätte erklären müssen. Vermutlich hätte dies wenig am weltweiten Infektionsgeschehen verändert. Für Deutschland zählt unterm Strich doch viel mehr, wie schnell und effektiv Politik und Behörden auf Gesundheitsbedrohungen reagieren. Und hier fällt vor allem auf, dass bei der Nutzung von Technologien des 21. Jahrhunderts noch Spielraum ist.
Pandemien des 21. Jahrhunderts gehören mit neuen Technologien bekämpft
Wo sind zum Beispiel die Antigentests, die eine unkomplizierte Selbsttestung innerhalb von 30 Minuten ermöglichen, etwa nach einem Risikokontakt oder vor dem Besuch der Großeltern? Apotheken dürfen die praktischen Neuentwicklungen nicht verkaufen, angeblich weil sie mit einer Sensitivität von etwa 80 bis 85 Prozent weniger zuverlässig sind als der 99,9-prozentige PCR-Test aus dem Fachlabor. Eine aktuelle Arbeit aus Harvard zeigt aber, dass viele etwas ungenauere Tests aus epidemiologischer Sicht mehr Sinn machen als wenige genaue.
Der politische Widerstand gegen die Selbsttests erinnert ein wenig an das Hin und Her mit den Masken. Da ist am Anfang viel Zeit verloren gegangen, bis man sich auf diese wichtige Schutzmaßnahme einigen konnte. Dabei ist Zeit in der Infektionsbekämpfung ein ganz wesentlicher Faktor. Auch nach einem Dreivierteljahr Pandemie führt die überwiegend manuelle Arbeit in den Gesundheitsämtern zu einem fortwährenden Meldestau, weswegen die Corona-Neuinfektionszahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) stets ein wenig veraltet sind. Schlimmer noch: Durch Papierstaus wird die zeitkritische Benachrichtigung von Infizierten oft verzögert.
Welche Blüten die digitale Rückständigkeit treiben kann, zeigte etwa die Coronapanne in Bayern. 44.000 Getestete, zumeist Reiserückkehrer, mussten im Sommer wochenlang auf ihre Testergebnisse warten; Dutzende nachweislich Infizierte waren schlicht nicht mehr auffindbar – wegen unleserlich ausgefüllter Erfassungsbögen. Ein zentrales digitales Meldesystem für den Infektionsschutz hätte solche Pannen verhindern können.
Nur aufgrund des hohen Drucks ist das schon seit sieben Jahren geplante elektronische Melde- und Informationssystem (DEMIS) im August vorzeitig in die Testphase gegangen. Eigentlich sollte das bundesweite System, das den elektronischen Datenaustausch zwischen Laboren, Gesundheitsämtern und dem RKI ermöglicht, erst im kommenden Jahr fertig werden. Corona hat die Sache beschleunigt. Im Moment ist die Technologie des 21. Jahrhunderts für die Mehrheit der Gesundheitsämter und Labore aber noch unbrauchbar.
In wenigen Wochen wurde zum Beispiel ein Onlineregister aufgebaut, das einen Überblick über die freien Intensivbetten im Lande gibt, Telekonsile zwischen COVID-19-Kliniken eingerichtet und Onlinesprechstunden auf den Weg gebracht. Hatten im Januar 2020 bundesweit rund 1.400 Mediziner Videosprechstunden angeboten, waren es im Sommer bereits mehr als 120.000.
Einiges aus der Krise gelernt
Was lernen wir daraus? Digitale Technik ist zwar nur ein Mittel zum Zweck, aber sie kann den Infektionsschutz und die Gesundheitsversorgung deutlich verbessern. Optimisten sehen darum Corona als Schub für die Digitalisierung der Medizin. Und tatsächlich lassen einige Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit hoffen, dass man verstanden hat.
Einiges aus der Krise gelernt
Mit auf die Rechnung muss die Corona-Warn-App der Bundesregierung. Mit aktuell 17,5 Millionen Downloads wurde die App laut dem Bundesgesundheitsministerium doppelt so oft heruntergeladen wie alle anderen angebotenen Corona-Apps in Europa zusammen. Statistischen Schätzungen zufolge werden allerdings bis dato nur etwa fünf Prozent aller Neuinfektionen an die App gemeldet. Mag sein, dass sich das im Laufe der Pandemie noch ändert, aber mittlerweile häufen sich die kritischen Stimmen.
Corona hat obendrein in der Forschung einiges möglich gemacht, was vorher klemmte. Patientendaten werden in Deutschland bislang wie ein heiliger Gral gehütet und liegen verteilt in den Krankenhäusern und bei den niedergelassenen Ärzten. Die viel zerredete elektronische Patientenakte gibt es im Jahr 2020 immer noch nicht. Dabei ist es von großer Bedeutung für die Forschung und die Versorgung, diese Daten vernetzbar zu machen. Besonders wenn draußen eine Pandemie tobt.
Verstanden hat das die Charité. Mitte März hatte die Berliner Universitätsmedizin – mit Rückendeckung und 150 Millionen Euro des Bundesforschungsministeriums – das Nationale Forschungsnetzwerk gegen COVID-19 initiiert. In dem Netzwerk sammeln und teilen immerhin über 30 Universitätskliniken Deutschlands ihre Behandlungsdaten, um daraus Strategien für Diagnostik und Behandlung von COVID-19-Patienten abzuleiten, die unmittelbar in die breite Versorgung fließen. So eine staatlich geförderte Forschungsplattform mit gemeinsamem Datenpool hat es in dieser Form in Deutschland noch nicht gegeben.
Forscher vom außeruniversitären Hasso-Plattner- Institut in Potsdam umgehen das deutsche „Datenproblem“ indes mit amerikanischen Daten. Relativ bald nach Ausbruch der Coronakrise haben die Potsdamer Digital-Health-Experten in Zusammenarbeit mit dem Krankenhausinstitut Mount Sinai in New York zeigen können, dass Blutverdünner bei COVID-19-Patienten zu einem deutlich milderen Krankheitsverlauf führen können.
Daten teilen kann Leben retten
Künstliche Intelligenz half dabei, bestimmte Laborparameter zu identifizieren, die auf eine Blutgerinnungsstörung hindeuteten. KI öffnete so einer maßgeblichen Therapie die Tür. Noch nie ist so deutlich geworden wie jetzt, dass es Menschenleben kostet, wenn Gesundheitsdaten nicht geteilt und verarbeitet werden. Insofern dürfte die Digitalisierung (nicht nur) im Gesundheitswesen zu den Gewinnern der Pandemie gehören.
Allerdings wird es langfristig nicht ohne Akzeptanz der Menschen gehen. Niemand würde eine App herunterladen oder seine Daten mit der Wissenschaft teilen, wenn der Nutzen der Aktion nicht erkennbar ist.
Spannend wird es, wenn die ersten Robotersysteme zu den Patienten kommen. Der Robotik-Experte Sami Haddadin hat gerade einen Roboter erfunden, der Rachenabstriche nimmt. Ob die Lösung aus München noch vor dem Impfstoff kommt, um medizinisches Personal in einer Hochrisikosituation zu schützen, bleibt abzuwarten. Die Technologie der sogenannten verkörperten Künstlichen Intelligenz steckt, wie Haddadin selbst sagt, noch in den Kinderschuhen.